Artikel im FREIFALL Xpress (Mai 2018)

Das Alter überspringen? (Mai 2018)

Nach dem zweiten Weltkrieg verbreitete sich das Fallschirmspringen in vielen Ländern als Sport, und zwar vor allem unter relativ jungen Menschen zwischen 20 und 30. Ein etwas älterer Springer (Lenny Barad) fühlte sich vermutlich ein bisschen isoliert unter diesen „jungen Hüpfern“ und gründete 1966 (im Alter von 40 Jahren) in den USA die POPS (Parachutists Over Phorty Society, Gesellschaft von Fallschirmspringern über 40). Das Wort Phorty findet man in keinem seriösen Wörterbuch. Es hat im Vergleich zu Forty aber den Vorteil, das POPS deutlich besser klingt als POFS. Bald gab es in vielen Ländern solche POP Societys, leichtgewichtige Vereine ohne Schatzmeister und ohne Beiträge, getragen von ein paar Freiwilligen, die jedem Mitglied (gegen eine geringe, einmalige Gebühr) eine POPS-Nr. zuordnen. Mitglied werden kann jeder, der mindestens 40 Jahre alt ist und mindestens einen Fallschirmsprung (z.B. einen Tandemsprung) gemacht hat (siehe dazu www.pops-deutschland.de).
Die Zeit verging und eine ganze Menge FallschirmspringerInnen wurden älter und älter, ohne das Springen aufzugeben. Neue Untergruppen der POP Society entstanden: SOS (Skydivers Over Sixty), JOS (Jumpers Over Seventy), JOE (Jumpers Over Eighty), JON (Jumpers Over Ninety). Einem Gerücht zufolge soll es in den USA eine JON Society mit 2 Mitgliedern geben. Eine Bestätigung dieses Gerüchts durch unabhängige Quellen ist mir bisher leider nicht gelungen :-).
Vor allem in der westlichen Welt gibt es einen starken Trend dazu, Aktivitäten für ältere Menschen zu schaffen. Die vielen Springer-Societys (POP, SOS, JOS, …) liegen voll in diesem Trend. Und sie machen viele Rekorde möglich, die es vorher nicht gab: POP-Rekorde, SOS-Rekorde, JOS-Rekorde, … .
Die POP Society der USA verwaltet weltweit alle solche Rekorde. Seit 1990 hat sie mehr als 4.200 Rekorde anerkannt. Davon waren waren einige USA state records (für Arizona, California, …), andere waren nationale Rekorde (für Russland, Deutschland, USA, …) und der Rest waren Weltrekorde. Näheres dazu findet man auf www.thepops.org/world/popsrecords.php.

Dieser Hintergrund ist nützlich um die volle Tragweite der folgenden Artikel-SOS-JOS-2018-1Nachricht angemessen zu würdigen:
Ende April 2018 waren 2 deutsche Fallschirmspringer, beide aus Berlin (Peter „Grete“ Kazmierczak, Heimat-Sprungplatz Fehrbellin, und Ulrich Grude, Heimatsprungplatz Gransee) an einem neuen SOS-Weltrekord im Formationsspringen beteiligt: 66 SpringerInnen über 60 bildeten eine (vorher festgelegte und angekündigte) Formation. Dieser Rekord wurde auf dem Sprungplatz Skydive Perris in Kalifornien (ca. 2 Autostunden von Los Angeles) geflogen. Für den Rekord waren 15 Sprünge geplant (3 Sprünge pro Tag, 5 Tage), und der Rekord gelang erst beim letzten Sprung am letzten Tag (das passiert bei ähnlichen Rekorden erstaunlich häufig. Das Wissen „Dies ist deine letzte Chance einen Weltrekord zu fliegen“ scheint viele SpringerInnen besonders gut zu motivieren und zu konzentrieren). An dem Rekord waren 7 Frauen und 59 Männer beteiligt. Die meisten Ulrich Grudewaren US-Amerikaner, ein paar kamen aus Kanada, Italien, Deutschland, Brasilien, Australien, Schweden und England.
Gesprungen wurde aus 4 Skyvans (das sind Flugzeuge mit Platz für bis zu 23 SpringerInnen und einer Heckklappe, durch die alle besonders schnell Artikel-SOS-JOS-2018-1raus springen können). 2 Kameramänner (Craig O’Brien und Terry Weatherford) machten beide bei jedem Sprung Videos und Fotos. Gesprungen wurde aus einer Höhe von 16500 feet (ca. 5000m). Für jede SpringerIn gab es im Flugzeug einen dünnen Plastik- Schlauch, aus dem ab 4000m Höhe Sauerstoff kam (und jede SpringerIn hatte einen „persönlichen Schlauch“, den sie an den Flugzeug-Schlauch anschloss und 2018/06/25/neues-aus-eisenach-vom-sos-meet/erst wenige Sekunden vor dem Absprung wieder ablöste. Den „persönlichen Schlauch“ konnte man sich wahlweise in die Nase oder in den Mund stecken. In Krankenhäusern bekommt man Sauerstoff durch genau so eine Ulrich Grude“Nasenbrille“).
Vor dem letzten, erfolgreichen Sprung lagen 14 Niederlagen. Beim 4. Sprung waren wir ganz nah dran:
alle Griffe waren richtig, aber der letzte Griff ging leider erst zu, als der erste schon wieder auf war (dabei ging es um Bruchteile einer Sekunde). Bei einem anderen Sprung war fast alles perfekt, nur ein einziger Springer lag zu tief und kam nicht mehr hoch (niemand hat ihn beschimpft, aber vermutlich hat er sich trotzdem nicht besonders wohl gefühlt). Bei allen 15 Sprüngen war die 8-er-Basis sehr gut bis perfekt.
Aber manchmal wurde sie zerbombt oder ging durch Höhenunterschiede zum Rest der Formation kaputt.
Wenn das passierte gab es natürlich keine Chance mehr, die geplante Formation zu fliegen.
Eine Fußballmannschaft braucht dringend einen guten Trainer, wenn sie schwierige Spiele gewinnen will.
Eine Gruppe von FallschirmspringerInnen braucht noch dringender einen sehr guten Coach, wenn sie eine große Formation fliegen will. Wir hatten Dan BC (Brodsky-Chenfeld). Zu seinen Aufgaben gehörte es, sich eine geeignete Formation auszudenken, jeder SpringerIn darin einen bestimmten Platz und einen dazu passenden Platz in einem der Flugzeuge zuzuordnen. Dabei konnte er Wünsche einzelner SpringerInnen berücksichtigen, musste aber solche Wünsche ablehnen, die auf Selbstüberschätzung beruhten (Selbstüberschätzung kommt bei Frauen sehr selten und bei Männern ziemlich häufig vor).
Außerdem musste Dan nach jedem missglückten Sprung (also 14 mal) dem Team wieder Mut einflößen, indem er z.B. die gut aussehenden Abschnitte der Videos besonders häufig vorführte und besonders gründlich besprach. Auf Fehler wies er auch deutlich hin, aber möglichst kurz und sachlich, manchmal auch in einen Scherz verpackt, und nie beleidigend.
Bei einem der ersten Sprünge schickte er 77 SpringerInnen in die Luft. Aber als das nicht zum Erfolg führte, verkleinerte er (die Formation und) das Team schrittweise, bis wir bei den letzten Sprüngen nur noch 66 waren. Dabei aus dem Team entfernt zu werden, war sicher nicht leicht zu ertragen. Einigen „Entfernten“ merkte man das an. Aber die meisten unterstützten das Team weiterhin mit Glückwünschen und High Fives vor jedem weiteren Sprung, mit tröstenden Worten nach jedem weiteren missglückten Sprung und mit begeisterten Rufen und Umarmungen nach dem letzten, geglückten Sprung.

Unter die Zahl 66 konnte Dan nicht gehen, weil der alte SOS-Weltrekord (geflogen 2017 ebenfalls in Perris unter seiner Leitung) bei 65 lag. 2018 konnte also jede der 66 SpringerInnen das Gefühl haben: „Ohne mich wäre es nicht gegangen!“. Und mit der knappen Zahl 66 haben wir es uns nicht unnötig schwer gemacht, den Rekord 2019 möglicherweise noch einmal zu verbessern :-).
Dan BC (geboren 1962) war selbst noch zu jung, um bei einem SOS-Rekord mit zu fliegen. Er brachte aber, trotz seiner Jugend, sehr reichliche Erfahrungen als Springer und Coach mit: Er hat nach eigenen Angaben „Lots of jumps“ gemacht (damit meinte er: Mehr als 15 Tausend), war unter anderem mehrmals Weltmeister in der Disziplin FS4 (Formationsspringen mit einem 4-er-Team, das ist wohl die anspruchsvollste Disziplin beim Fallschirmspringen) und hat ein interessantes Buch über sein Leben und die Geschichte des Fallschirmspringens in den USA und in der ganzen Welt geschrieben („Above All Else“, ISBN: 978-1-61608-446-2).
Um die weite Reise von Berlin nach Perris gut auszunutzen hatte ich (U. G.) mich auch noch zu einem JOS-Weltrekord-Versuch angemeldet (Grete war noch zu jung dafür). Dafür waren 12 Sprünge an 3 Tagen aus 2 Flugzeugen (einer Skyvan und einer Twin-Otter) aus einer Höhe von 12500 feet (etwa 3700m) geplant (Sauerstoff war bei dieser Höhe nicht nötig). Nach dem 9. Sprung (dem ersten am letzten Tag) schrieb ich in mein Sprungbuch: „Mit dem JOS-Rekord wird es wohl nichts“. Aber beim 10. Sprung bekamen wir ein bisschen mehr Höhe (4000m statt 3700m, das sind etwa 6 Sekunden mehr Freifall) und fast alles klappte gut, nur ein einziger Springer schaffte es nicht in die Formation. Wir schöpften wieder Mut. Zwei Springer hatten sich bei der letzten Landung leicht verletzt und humpelten ein bisschen. Aber sie blieben dabei, denn wir waren (mit ihnen) nur noch 25, und der alte JOS-Rekord lag bei 24 (ganz ähnlich wie beim SOS-Rekord). Beim 11. Sprung bekamen wir noch ein bisschen mehr Höhe (4100m, noch 2 Sekunden mehr) und da kamen endlich alle sauber zusammen: 25 SpringerInnen über 70 bildeten eine (vorher festgelegte und angekündigte) Formation und hielten sie mehrere Sekunden lang. Bei diesem Sprung machten 2 Frauen mit. Die meisten SpringerInnen stammten aus den USA, ein paar aus Kanada, Deutschland und Schweden.
Nachträglich erfuhren wir, dass der 11. Sprung unsere letzte Chance gewesen war. Ein 12. Sprung wäre nicht mehr möglich gewesen, weil der Wind zu stark wurde.
Was wird die Zukunft bringen? Für den August 2018 ist in Chicago ein ziemlich ehrgeiziges Projekt geplant: 100 SOS-SpringerInnen sollen in einer Formation zusammenkommen (und damit unseren 66-er-SOS-Rekord weit überbieten). Grete wird hinfahren und mitmachen, ich werde in Berlin bleiben. Wenn ich es schaffe, noch 6 Jahre fit zu bleiben, kann ich vielleicht an einem JOE (Jumpers Over Eighty) Rekordversuch teilnehmen. Der jetzige JOE-Weltrekord im Formationsspringen war eine 6-er-Formation (2012 bei Skydive Arizona in Eloy). Eine 7-er-Formation müsste eigentlich zu machen sein. Und ich habe ja noch ein paar Jahre Zeit für die Vorbereitungen. Von dem Springer Bill Wood (1930-2016) wissen wir ja: Du hörst nicht auf mit dem Springen weil du alt wirst, sondern du wirst alt, weil du mit dem Springen aufhörst.
Ulrich Grude